Flucht in die Grundversorgung dauert an

10. November 2022 um 09:00 von

Die aktuelle Preissituation auf den Energiemärkten stellt alle Marktbeteiligten vor neue Probleme. Manche Kunden erhalten kein (preisgünstiges) Angebot für eine Energiebelieferung auf Basis eines Sondervertrages und suchen ihr Heil daher in der Grundversorgung. Selbst Mittelspannungskunden haben in Einzelfällen schon eine Belieferung zu Grundversorgungstarifen verlangt. Das ist allerdings mit § 36 EnWG offensichtlich unvereinbar. Grundversorgungsfähig sind nur Haushaltskunden, die an das Niederspannungsnetz- bzw. Niederdrucknetz angeschlossen sind. In vielen Konstellation ist die Eigenschaft als Haushaltskunde allerdings streitanfällig. Beispielsweise argumentieren inzwischen gewerbliche Vermieter, die Strom oder insb. Gas zur Versorgung ihrer Mieträumlichkeiten kaufen, mit der Haushaltskunden-Eigenschaft ihrer Mieter.

Diejenigen Versorgungsunternehmen, die in solchen Konstellationen (richtigerweise) eine Grundversorgung ablehnen, sind gut beraten, ihre weiteren Prozesse zu überprüfen. Der Preisunterschied zwischen den Grund- und Ersatzversorgungstarifen ist in der Regel eklatant, so dass ein Streit über die Rechnungshöhe vielfach vorprogrammiert ist. Darüber hinaus endet die Ersatzversorgung nach drei Monaten, und es ist keineswegs sichergestellt, dass sich der Kunde um eine Anschlussbelieferung kümmert. Er steht ja gerade auf dem Standpunkt, einen Anspruch auf Grundversorgung zu haben. Individuelle Vereinbarungen mit den Kunden können eine Lösung bringen, aber diese zu erzielen setzt eine Verhandlungsbereitschaft des Kunden voraus.

Damit bleibt als ultima ratio die Sperrung. Ob und wie schnell man in solchen Fällen sperren kann, ist rechtlich noch nicht endgültig geklärt. Es spricht einiges dafür, dass die strengen Anforderungen des § 19 GVV für die Fälle der (beendeten) Ersatzversorgung nicht gelten. Allerdings dürfte eine Vorankündigung schon deshalb unentbehrlich sein, damit die Betroffenen sicherstellen können, dass keine Schäden an ihren Geräten entstehen. Eine solche Vorankündigung dürfte in vielen Fällen den Widerstand der Kunden gegen die Sperrung auslösen, sei es in Form eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung, sei es durch eine Zutrittsverweigerung, auf die dann wiederum das EVU rechtlich reagieren muss. Eine gründliche Planung der Eskalationsmaßnahmen ist auch im Sperrprozess außerhalb von § 19 GVV unentbehrlich.

BGH zur einseitigen Fortsetzung eines Lieferverhältnisses – Update zu „Kein Gratis-Strom im Schweinestall…“

19. Juli 2022 um 13:35 von

Mit Beitrag vom 10. Februar 2021 (Verlinkung) haben wir über ein Urteil des OLG Düsseldorf (I-27 U 19/19) zur Rechtsfigur der sog. geduldeten Notstromentnahme berichtet. Das OLG Düsseldorf hatte über einen Fall zu entscheiden, in dem ein Letztverbraucher, der ohne ein Lieferverhältnis zu einem bestimmten Lieferanten Strom bezogen hat, zwar in Niederspannung angeschlossen, aber nicht grundversorgungsberechtigt war. Bekanntlich hat das OLG Düsseldorf entschieden, dass der Letztverbraucher dem Netzbetreiber (jedenfalls) auf der Grundlage der Geschäftsführung ohne Auftrag einen Ersatz für die entnommenen Strommengen schulde.

Diese Entscheidung wurde nunmehr mit Urteil vom 10. Mai 2022 (EnZR 54/21) durch den BGH gekippt. Nach Auffassung des BGH seien Strommengen, die ein Letztverbraucher ohne vertragliche oder gesetzliche Grundlage aus dem Niederspannungsnetz beziehe, bilanziell, wirtschaftlich und zivilrechtlich nicht dem Verteilernetzbetreiber, sondern dem Grund- und Ersatzversorger zuzuordnen. Die Zuordnung zum Grund- und Ersatzversorger habe unabhängig davon zu erfolgen, ob es sich bei dem betroffenen Letztverbraucher um einen grundversorgungsfähigen Haushaltskunden handele oder nicht.

Der BGH hat unter Bezugnahme auf seine frühere Entscheidung vom 27.10.2020 (EnVR 104/19) erklärt, dass einer Zuordnung lieferantenloser Lieferstellen zum Bilanzkreis des Verteilnetzbetreibers die Entflechtungsvorgaben der §§ 6 ff. EnWG entgegenstünden. Da eine bilanzielle Zuordnung zum Verteilnetzbetreiber unzulässig sei, könnten die Strommengen, die der Letztverbraucher unberechtigterweise aus dem Netz entnehme, auch nicht dem Vermögen des Verteilnetzbetreibers zugeordnet werden. Deshalb könne dieser keine Zahlungsansprüche – über eine Geschäftsführung ohne Auftrag oder das Bereicherungsrecht – gegen den Letztverbraucher geltend machen.

Nach Auffassung des BGH seien die Strommengen, die der lieferantenlose Letztverbraucher dem Niederspannungsnetz entnehme, stets dem Grund- und Ersatzversorger bilanziell zuzuordnen. Dies gelte wegen der Auffangfunktion des Grund- und Ersatzversorgers insbesondere auch dann, wenn der Letztverbraucher nicht als Haushaltskunde qualifiziert werden könne. Es komme also in jedem Fall zu einer wirtschaftlichen und vermögensrechtlichen Zuordnung zum Grund- und Ersatzversorger; und das selbst nach Auslaufen Ersatzversorgung. Der Letztverbraucher setze das Lieferverhältnis nach Ablauf der dreimonatigen Ersatzversorgung einseitig fort, so der BGH. Der ihm somit gewissermaßen aufgedrängten Belieferung des Letztverbrauchers könne der Grund- und Ersatzversorger entgegenwirken, indem er eine Zählersperre durchsetze oder zivilrechtliche Unterlassungs- und Ausgleichsansprüche geltend mache.

Damit lehnt der BGH die kontrovers diskutierte Rechtsfigur der geduldeten Notstromentnahme sowohl für grundversorgungsfähige (Beschluss vom 27.10.2020, EnVR 104/19) als auch für nicht grundversorgungsfähige Letztverbraucher (Urteil vom 10.05.2022, EnZR 54/21) kategorisch ab. Die Verantwortlichkeit für die Belieferung der Letztverbraucher liegt aus Sicht des BGH ausnahmslos bei dem jeweils zuständigen Grund- und Ersatzversorger.