OLG Hamm mit lehrreicher Entscheidung zu Messung und Energievertrieb

20. Oktober 2023 um 09:00 von

Mit Urteil vom 15.06.2023 (Az. 2 U 179/21) hat das Oberlandesgericht Hamm im Rahmen eines Berufungsverfahrens über einen Fall mit einigen für das Vertriebsrecht interessanten Fragestellungen entschieden. Ein Energieversoger hat einen größeren Industriekunden mit Strom beliefert und aufgrund eines Fehlers des Messstellenbetreibers bei der Verarbeitung der Messwerte über Jahre einen deutlich zu niedrigen Stromverbrauch abgerechnet. Nachdem der Fehler auf Seiten des Messstellenbetreibers aufgefallen war, hat der Energieversorger Korrekturrechnungen gegenüber dem Kunden ausgestellt, die mit einer hohen Nachforderung endeten. Der Kunde hat keine Zahlungen an den Versorger geleistet und sich hierbei neben verschiedenen anderen Einwänden u.a. auf die dreijährige Ausschlussfrist aus § 18 Abs. 2 Hs. 2 StromGVV bzw. einer dieser Regelung nachgebildeten Klausel aus den AGB des Liefervertrages berufen. Außerdem hat er für den Fall einer Stattgabe der Klage widerklagend Schadensersatzansprüche geltend gemacht und zur Begründung angeführt, dass ihm bei einer rückwirkenden Abrechnung des höheren Stromverbrauchs wegen der inzwischen abgelaufenen Antragsfristen energie- und steuerrechtliche Privilegierungen in Form einer Reduzierung der EEG-Umlage (im Rahmen der besonderen Ausgleichsregelung) und der Stromsteuer entgehen würden.

Das Oberlandesgericht Hamm hat die erstinstanzliche Entscheidung des Landgerichts Arnsberg, mit der der Klage des Versogers in überwiegendem Umfang stattgegeben und die (hilfsweise) Widerklage abgewiesen wurde, bestätigt. Es hat die AGB-rechtliche Zulässigkeit der die Regelung aus § 18 Abs. 2 Hs. 2 StromGVV nachbildenden Klausel bestätigt und sich der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Beginn und zur Berechnung der Ausschlussfrist angeschlossen. Die Frist werde von dem Zeitpunkt an zurückgerechnet, in welchem der Kunde von der Möglichkeit, wegen eines Berechnungsfehlers in Anspruch genommen zu werden, aufgrund eigener Feststellungen oder durch Mitteilung des Versorgungsunternehmens jedenfalls dem Grunde nach Kenntnis erlangt habe. Dieser Zeitpunkt fordere weder eine positive Kenntnis des Kunden von Einzelheiten des Berechnungsfehlers und des Zeitraums, in dem er sich auswirke, noch von der Höhe etwaiger Nach- oder Rückzahlungen oder auch nur die Gewissheit, dass der Kunde überhaupt nachträglich in Anspruch genommen werde.

Aus Sicht des Oberlandesgerichts sei die Klageforderung auch nicht verjährt. Eine der Regelung aus 17 Abs. 1 Satz 1 StromGVV nachgebildete Klausel aus den AGB des Liefervertrages begegne keinen AGB-rechtlichen Bedenken. Maßgebend für den Beginn der Verjährungsfrist sei nicht der Zeitpunkt, zu dem der Versorger die Fälligkeit durch Vorlage einer Abrechnung hätte herbeiführen können, sondern der Zeitpunkt, an dem die Nachforderungsansprüche fällig würden. Es komme also nicht auf die Ausstellung der ersten, fehlerhaften Rechnungen, sondern auf die Ausstellung der Korrekturrechnungen an. Eine Verwirkung der Klageforderung komme ebenfalls nicht in Betracht. Aus der kommentarlosen Übersendung der fehlerhaften Ursprungsabrechnungen habe der Kunde nicht schließen können, dass der Versorger keine Nachzahlungen im Falle von Berechnungsfehlern erheben würde.

Mit Blick auf die Abweisung der Widerklage des Kunden sind insbesondere die Ausführungen des Oberlandesgerichts Hamm zur Frage der Zurechnung des Verschuldens des Messstellenbetreibers an den Versorger interessant. Aus Sicht des Gerichts handele der Messstellenbetreiber bei der Ermittlung und Verarbeitung der Messwerte nicht als Erfüllungsgehilfe des Versorgers im Sinne von § 278 BGB. Der Messstellbetreiber erfülle mit der Ablesung der Messgeräte und der anschließenden Berechnung des Stromverbrauchs eine eigene Pflicht. Im Übrigen habe der Messstellenbetreiber den Fehler nicht grob fahrlässig verursacht. Er habe einen schlichten, wenngleich ungewöhnlichen Rechenfehler begangen, der sich anschließend unverändert fortgesetzt habe, aber nicht jedem Sachkundigen gleichsam ins Auge habe fallen müssen. Daher könnte sich der Versorger erfolgreich auf die – ebenfalls AGB-rechtlich wirksame – Haftungsbeschränkung aus dem Stromliefervertrag berufen.

Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm ist rechtskräftig.

Grundsatz bestätigt: Pflichtversorgungskunden können fehlerhafte Messung/Ablesung erst im Rückforderungsprozess beanstanden

8. Oktober 2013 um 10:44 von

Zähler elektronisch1Kaum jemals wird ein Rechtsstreit wegen rückständiger Versorgungsentgelte vor den Gerichten verhandelt, ohne dass sich der Kunde früher oder später auf eine vermeintliche Fehlerhaftigkeit der ermittelten Verbrauchsmengen berufen würde. Dieser Einwand mag oftmals nur vorgeschützt sein, sich teilweise aus bloßem Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Netzbetreibers (als Messstellenbetreiber) ergeben und teilweise auch einem ungenügenden Einschätzungsvermögen bezüglich des eigenen Verbrauchsverhaltens geschuldet sein – als gerechtfertigt erweist sich dieser Einwand erfahrungsgemäß nur in den seltensten Fällen.

Umso misslicher ist es daher, dass einige Gerichte nicht selten bloße Zweifel an der Richtigkeit der Messung und Ablesung genügen lassen wollen, um dem Versorger einen Beweis der tatsächlichen Liefermengen abzuverlangen, und ihm – zur Vermeidung dieses zeit- und kostenaufwändigen Unterfangens – die Eingehung eines verlustreichen Prozessvergleichs nahelegen. Hier drängt sich der Eindruck auf, dass sich mancher Richter von einem falsch verstanden Verbraucherschutzdenken beeinflussen lässt. Denn zumindest im Bereich der Pflichtversorgung gemäß AVBWasserV, StromGVV und GasGVV hat der Verordnungsgeber klare Regelungen des Inhalts getroffen, dass eine Zahlungsverweigerung des Kunden grundsätzlich nur insoweit zulässig ist, als die fraglichen Abrechnungen bzw. die zugrunde gelegten Messwerte offensichtlich fehlerhaft sind (§ 30 Nr. 1 AVBWasserV sowie – jeweils mit zusätzlichen Einschränkungen bezüglich einer unterjährigen Verbrauchssteigerung und eines Nachprüfungsverlangens – § 17 Abs. 1 Satz 2 StromGVV/GasGVV).

Hilfreich in der Argumentation vor den Instanzgerichten ist nun eine jüngere Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 21.11.2012 zum Aktenzeichen VIII ZR 17/12. Darin bestätigt der Senat in Bezug auf § 30 Nr. 1 AVBWasserV einmal mehr:

„Um Liquiditätsengpässe und daraus folgende Versorgungseinschränkungen auszuschließen, wollte der Verordnungsgeber es den Versorgungsunternehmen mit der Bestimmung des § 30 AVB ermöglichen, die Vielzahl ihrer häufig relativ kleinen Forderungen mit einer vorläufig bindenden Wirkung festzusetzen und im Prozess ohne eine abschließende Beweisaufnahme über deren materielle Berechtigung durchzusetzen. Zu diesem Zweck sollte dem Kunden nur der von ihm zu erbringende Nachweis einer offensichtlichen Unrichtigkeit als Verteidigungsmittel gegen das Zahlungsverlangen offenstehen. Nach der gewählten Konzeption sollte der Kunde, der einen offensichtlichen Fehler nicht vortragen und/oder belegen kann, deshalb im Zahlungsprozess des Versorgungsunternehmens mit dem Einwand eines fehlerhaft abgerechneten Verbrauchs ausgeschlossen und darauf verwiesen sein, die von ihm vorläufig zu erbringenden Zahlungen in einem anschließend zu führenden Rückforderungsprozess in Höhe des nicht geschuldeten Betrages erstattet zu verlangen

(BGH, a.a.O. Rn. 12). Zur Begründung heißt es an nämlicher Stelle:

„Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass die einem Kontrahierungszwang unterliegenden Versorgungsunternehmen in der Regel erheblichen Vorleistungspflichten ausgesetzt sind und ihrer gleichwohl bestehenden Aufgabe, für eine kostengünstige und sichere Energie- und Wasserversorgung einzustehen, nur dann hinreichend nachkommen können, wenn ein verhältnismäßig zeitnaher Zahlungseingang für die von ihnen erbrachte Versorgungsleistung gewährleistet ist.“

Die vom Kunden darzulegende und erforderlichenfalls zu beweisende Offensichtlichkeit des fraglichen Mess-, Ablese- oder Rechenfehlers setzt dabei voraus – so der Senat weiter –, dass die Rechnung bereits auf den ersten Blick Fehler erkennen lässt, also bei objektiver Betrachtung kein vernünftiger Zweifel über die Fehlerhaftigkeit möglich ist (BGH, a.a.O. Rn. 15 f.).

Es bleibt zu hoffen, dass die Instanzgerichte diese sachgerechte und überzeugend begründete Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zukünftig konsequenter berücksichtigen werden und damit der reflexhaften Berufung auf irgendwelche vorgeschützten Mess- oder Ablesefehler einen Riegel vorschieben.