EuGH erklärt Preisanpassungsklauseln für europarechtswidrig

21. März 2013 um 17:49 von

Mit Urteil vom heutigen Tage (Rechtssache C‑92/11) hat der Europäische Gerichtshof Preisanpassungsklauseln in Gaslieferverträgen, die den Wortlaut der AVBGasV  übernehmen, für europarechtswidrig erklärt. Die Entscheidung ist für die Versorgungswirtschaft von großer Bedeutung. Sie wirkt sich sowohl auf die Grundversorgung als auch auf die Gestaltung von Sonderkundenverträgen im Strom- und Gassektor aus. Der BGH hatte in Erwartung der EuGH-Entscheidung eine Reihe von Leitverfahren ausgesetzt.

Ausgangsverfahren

In dem der EuGH-Vorlage zugrunde liegenden Verfahren streiten die RWE Vertrieb AG und die Verbraucherzentrale NRW (aus abgetretenem Recht von verschiedenen Sonderkunden) um Gaspreisänderungen im Zeitraum 2003-2005. Das Gasversorgungsunternehmen hatte in den AGB seiner Sonderkundenverträge das gesetzlich im Tarifkundenverhältnis geltende einseitige Preisänderungsrecht (§ 4 Abs. 1, 2 AVBGasV) übernommen.

Der BGH hatte dem EuGH diesbezüglich zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: Die erste Frage lautete, ob die Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen dann keine Anwendung auf Preisänderungsklauseln findet, wenn die für Tarifkunden im Rahmen der allgemeinen Anschluss- und Versorgungspflicht geltenden gesetzlichen Regelungen unverändert in die Vertragsverhältnisse mit den Sonderkunden übernommen worden sind. Die zweite Frage betraf die Vereinbarkeit einer die AVBGasV unverändert übernehmenden Preisänderungsklausel mit der Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (RL 93/13/EWG) sowie der Erdgasbinnenmarktrichtlinie (RL 2003/55/EG).

Die mündliche Verhandlung hatte am 28.6.2012 stattgefunden. Nachdem bereits die Schlussanträge der Generalanwältin in diese Richtung gewiesen hatten, war die nunmehr vorliegende Entscheidung des EuGH erwartet worden. (…)

Entscheidung des EuGH

Der EuGH beantwortet die erste Vorlagefrage dahin, dass die Missbrauchskontrolle von AGB nach der RL 93/13/EWG nur für solche Klauseln ausscheidet, die auf gesetzlichen Bestimmungen für den konkreten Vertragstyp beruhen. Ansonsten sei eine ausgewogene Regelung aller Rechte und Pflichten der Parteien der betreffenden Verträge nicht gewährleistet und der vom Unionsrecht angestrebte Verbraucherschutz gefährdet. Das sei bei der Übernahme von § 4 Abs. 2 AVBGasV in einem Sondervertrag allerdings nicht der Fall. Denn die Vorschrift gelte nur für allgemeine Tarifverhältnisse und damit für einen anderen Vertragstyp. Der deutsche Gesetzgeber habe Sonderkundenverträge gerade vom Anwendungsbereich der AVBGasV ausnehmen wollen. Daher seien die Sonderkunden-AGB der Missbrauchskontrolle nach RL 93/13/EWG unterworfen.

Zur zweiten Vorlagefrage (Missbräuchlichkeit der Preisänderungsklausel) erkennt der EuGH zwar grundsätzlich das Interesse der Versorgungsunternehmen an Preisänderungen in langfristigen Lieferbeziehungen als berechtigt an. Allerdings stellten sowohl die Missbrauchsrichtlinie als auch die Erdgasbinnenmarktrichtlinie strenge Anforderungen an Treu und Glauben, Ausgewogenheit und Transparenz einer solchen Klausel. Inwieweit die im Einzelfall zu beurteilende Klausel hiermit im Einklang stehe, sei letztlich eine Sache der nationalen Gerichte. Gleichwohl gibt der EuGH einen Rahmen vor innerhalb dessen die Beurteilung zu erfolgen habe: Zum einen müssten Preisänderungsklauseln den Anlass, die Voraussetzungen und den Umfang der Preisänderung anhand klarer und verständlicher Kriterien darstellen. Zum anderen müsse der Verbraucher von seiner Kündigungsmöglichkeit tatsächlich Gebrauch machen können, was nicht der Fall sei, wenn ihm eine Möglichkeit zum Lieferantenwechsel fehle oder er nicht rechtzeitig von der Preisänderung benachrichtigt werde.

Auch einen Antrag der Bundesregierung, die zeitlichen Wirkungen des Urteils zu begrenzen, hat der EuGH zurückgewiesen. Diese hatte das Gericht um eine zeitliche Beschränkung ersucht, um die finanziellen Auswirkungen des Urteils auf die Versorgungswirtschaft abzufedern. Der EuGH stellt sich allerdings auf den Standpunkt, dass die Voraussetzungen für einen Rückwirkungsausschluss der Urteilswirkungen (namentlich: Gefahr schwerwiegender Störungen) nicht vorlägen. Letztlich habe das nationale Gericht darüber zu befinden, ob die Klausel gegen die o.g. Kriterien verstoße. Vor diesem Hintergrund könne der EuGH selbst keine Gefahr schwerwiegender Störungen feststellen. Daher sei das Urteil nicht nur auf die ab heute eintretenden Tarifänderungen anwendbar, sondern auch auf alle Tarifänderungen, die seit dem Inkrafttreten der RL 93/13/EWG und RL 2003/55/EG erfolgt sind.

Auswirkungen des Urteils

Die Aussagen aus dem Urteil vom heutigen Tage dürften entsprechend auf Klauseln nach dem Muster der Strom-/GasGVV anzuwenden sein, welche die AVBStrom/-GasV mittlerweile abgelöst haben. Substantielle Unterschiede, warum die GVV transparenter seien sollten, sind nicht ersichtlich.

Der EuGH stellt die Energieversorger damit vor ein Dilemma: Angesichts der nationalen Rechtsprechung erscheint es geradezu ausgeschlossen, Preisänderungsklauseln überhaupt rechtswirksam auszugestalten. Eine Klausel, die zugleich der Äquivalenzrechtsprechung des BGH genügt und den Transparenzanforderungen des EuGH, erscheint unerreichbar.

Wenn der BGH seine bisherige Rechtsprechung zu Preisänderungsklauseln nicht revidiert, verbliebe zukünftig allein die Möglichkeit des Angebots von Festpreisverträgen mit überschaubaren Laufzeiten und ohne automatische Vertragsverlängerung. In der wohl deutlich überwiegenden Zahl von Fällen würde das dazu führen, dass die Kunden nach Vertragsende in die – zumeist teurere – Grundversorgung fallen, weil eine Bereitschaft der Kunden zu aktivem Handeln und damit der Wille, sich um einen Anschlussvertrag oder einen Versorgerwechsel zu bemühen, noch immer als deutlich gering ausgeprägt bezeichnet werden muss.

In Bezug auf Rückforderungsprozesse bleibt abzuwarten, inwieweit der BGH die grundsätzliche Rückwirkung des Urteils durch andere Rechtsinstitute (Schutz des Vertrauens in höchstrichterliche Rechtsprechung o.ä.) abfedert, und dadurch eine dringend notwendige Begrenzung der wirtschaftlichen Konsequenzen bewerkstelligt.

Unklar ist ebenfalls, inwieweit das EuGH-Urteil auch auf das eigentliche Preisanpassungsrecht aus der GVV in der Grundversorgung übertragbar ist. Die Missbrauchskontrolle nach RL 93/13/EWG findet hier jedenfalls keine Anwendung, weil es sich um eine materiell-gesetzliche Bestimmung handelt. Die Binnenmarktrichtlinien gelten allerdings auch hier. Zudem bestehen in der Grundversorgung nur eingeschränkte Kündigungsmöglichkeiten des Versorgungsunternehmens. Der Grundversorger ist also auf ein wirksames Preisänderungsrecht angewiesen. In wieweit diese sachlichen Unterschiede den EuGH zu einer anderen Bewertung veranlassen würden, kann hier nicht abschließend beurteilt werden.