BGH: Die Unzulässigkeit einer Verbrauchsschätzung schließt den Zahlungsanspruch des Versorgungsunternehmens nicht aus

25. November 2013 um 15:06 von

Zähler altMit Urteil vom 16.10.2013 (VIII ZR 243/12) hat der Bundesgerichtshof klargestellt, dass eine unzulässige Verbrauchsschätzung nicht zu einem Forderungsausschluss auf Seiten des Versorgungsunternehmens führt. Sie hat lediglich zur Folge, dass der Versorger den der Rechnung zu Grunde gelegten, durch den Kunden jedoch bestrittenen Verbrauch zur Überzeugung des Gerichts nachweisen muss. Dabei ist, wenn eine exakte Ermittlung des tatsächlichen Verbrauchs auf andere Weise nicht möglich ist, eine gerichtliche Schätzung nach § 287 ZPO zulässig, sofern der Vortrag der Parteien eine hinreichende Grundlage für eine tatrichterliche Schätzung des Verbrauchs bietet.

Der Entscheidung lag der Sachverhalt zu Grunde, dass die Schlussrechnungen des Versorgungsunternehmens auf einem geschätzten Endstand des Zählers beruhte, die Voraussetzungen für eine Schätzung nach § 11 Abs. 3 StromGVV/GasGVV jedoch unstreitig nicht vorlagen. Nachdem der Kunde die Schlussrechnung unter Vorbehalt bezahlt hatte, forderte er anschließend im Klagewege die Rückzahlung der Rechnungsbeträge.

Das Ausgangsgericht gab der Rückzahlungsklage statt. Das Berufungsgericht wies die hiergegen eingelegte Berufung mit der Begründung zurück, die Forderungen aus den Schlussrechnung seien nicht fällig, weil das Versorgungsunternehmen die Rechnungen nicht ordnungsgemäß gemäß § 12 GVV erstellt habe. Auf § 17 Abs. 1 GVV könne sich der Versorger nicht berufen, weil die Voraussetzungen für eine Schätzung unstreitig und für alle Beteiligten offensichtlich nicht gegeben gewesen seien, weshalb ein offensichtlicher Fehler der Abrechnung vorliege. Eine Schätzung durch das Gericht nach § 287 ZPO scheide aus, weil dies der Intention zuwiderlaufe, dass der Verbrauch nur unter den Voraussetzungen des § 11 Abs. GVV geschätzt werden dürfe. Eine unzulässige Verbrauchsschätzung habe in Anwendung des Gedankens der mietrechtlichen Ausschlussvorschrift des § 556 Abs. 3 Satz 3 BGB vielmehr zur Folge, dass der Versorger gegenüber dem Kunden überhaupt nicht mehr abrechnen könne.

Dem ist der Bundesgerichtshof in der Revisionsinstanz entgegengetreten. Zwar dürfe der Lieferant (bzw. die Vertriebssparte) nach § 11 Abs. 1 GVV der eigenen Abrechnung nicht einen vom Netzbetreiber (bzw. der Netzsparte) übermittelten Schätzwert zu Grunde legen, weil die Vorschrift, deren Intention die Vermeidung unnötiger Doppelablesungen sei, nur die Verwendung tatsächlicher Ablesedaten des Netzbetreibers gestatte. Auch sei nach den Feststellungen des Berufungsgerichts davon auszugehen, dass die Voraussetzungen von § 11 Abs. 3 GVV nicht vorlagen. Jedoch enthielten die Grundversorgungsverordnungen keine dem § 556 Abs. 3 Satz 3 BGB vergleichbare Sanktionsbestimmung, die es dem Versorgungsunternehmen von vornherein verwehren würde, eine auf einer unzulässigen Schätzung beruhende Forderung gerichtlich geltend zu machen. Vielmehr müsse der Versorger einen bestrittenen Verbrauch zur Überzeugen des Gerichts beweisen. Hierbei komme auch eine gerichtliche Schätzung nach § 287 ZPO in Betracht. Zwar treffe es zu, dass der Verbrauch vom Versorger nur unter den Voraussetzungen des § 11 Abs. 3 GVV geschätzt werden dürfe. Dies hindere im Rahmen der Überprüfung, ob und inwieweit die (unzulässige) vorprozessuale Schätzung zutreffe, jedoch nicht, dem Versorger bei dem ihm obliegenden Nachweis des tatsächlichen Verbrauchs die Beweiserleichterung des § 287 Abs. 2 ZPO zu Gute kommen zu lassen.

Erfreulicherweise hat sich der VIII. Zivilsenat auch noch einmal zu den Voraussetzungen der Zahlungsverweigerung nach § 17 Abs. 2 GVV geäußert und festgestellt,  dass zum einen die bloße Unzulässigkeit der Verbrauchsschätzung nicht schon die ernsthafte Möglichkeit eines offensichtlichen Fehlers begründet und zum anderen selbst eine offensichtliche Zuvielforderung nicht die vollständige Zahlungsverweigerung rechtfertigt, sondern nur derjenige (Teil-)Betrag, der offensichtlich fehlerhaft in Rechnung gestellt worden ist, vom Kundenzurückbehalten werden darf.

Den Ausführungen des Bundesgerichtshofs ist beizupflichten. Ein Forderungsausschluss, wie ihn das Berufungsgericht angenommen hat, kann nicht im Wege richterlicher Rechtsfortbildung geschaffen werden. Gleichwohl empfiehlt es sich natürlich, Verbrauchs­schätzungen nur bei Vorliegen der Voraussetzungen von § 11 Abs. 3 der GVV vorzunehmen und sich insoweit auch nicht einfach auf vom Netzbetreiber übermittelte Schätzwerte zu verlassen. Denn § 287 ZPO dient, worauf der Bundesgerichtshof zu Recht hinweist, nur der Beweiserleichterung und birgt das Risiko, dass mir ihr unter Umständen nur der Mindestumfang des Anspruchs ermittelt werden kann.

BGH Urteil im Volltext jetzt veröffentlicht:

http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&Seite=0&nr=65995&pos=29&anz=584&Blank=1.pdf

BGH zieht Konsequenz aus EuGH-Urteil: Preisänderungsklausel analog § 4 AVBGasV im Sondervertrag unwirksam

6. August 2013 um 08:15 von

GasflammeAm Mittwoch, 31.07.2013, verkündete der Bundesgerichthof die Entscheidung, dass die unveränderte Übernahme des im Tarifkundenverhältnis geltenden Preisänderungsrechts aus § 4 AVBGasV in einen Sondervertrag AGB-rechtlich unwirksam sei, weil die Regelung nicht den Transparenzanforderungen der europäischen Klauselrichtlinie (RL 93/13/EWG) und der Erdgasbinnenmarktrichtlinie (RL 2003/55/EG, inzwischen aufgehoben durch RL 2009/73/EG) entspreche. Der BGH, der in der Vergangenheit eine solche unveränderte Übernahme des gesetzlichen Preisänderungsrechts aus Gründen der Interessengleichheit von Tarif- und Sonderkunden im Ergebnis für konform mit dem AGB-Recht gehalten hatte (vgl. BGH NJW 2011, 1342 Rn. 27 m.w.N.), musste mit der jüngsten Entscheidung vom 31.07.2013 nunmehr die im Ergebnis gegenteilige Konsequenz aus dem Urteil des EuGH vom 21.03.2013 (Rs C-92/11 – NJW 2013, 2253) ziehen. Der EuGH hatte damit die ihm vom BGH vorgelegten Fragen zur Anwendbarkeit der Klauselrichtlinie und zur Vereinbarkeit einer das gesetzliche Preisänderungsrecht unverändert übernehmenden AGB-Klausel mit dieser Richtlinie sowie der Erdgasbinnenmarktrichtlinie beantwortet. Zum Urteil des EuGH hatte ich bereits am 21.03.2013 in diesem Blog berichtet. Außerdem habe ich auf der frei zugänglichen AGB-Klauselwerke Homepage des C.H. Beck Verlags eine Anmerkung verfasst. Die Homepage veröffentlicht aktuelle Meldungen, die im Zusammenhang mit dem Handbuch “Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke” (hsrg. von Graf von Westphalen) stehen. Mein Kollege Dr. Thomas Höch und ich kommentieren darin das Recht der Gaslieferverträge.

BGH bestätigt ergänzende Vertragsauslegung bei unwirksamen Preisänderungsklauseln

23. April 2013 um 16:32 von

Mit Leitsatzentscheidung vom 23.01.2013 (VIII ZR 80/12) hat der BGH seine Rechtsprechung zur ergänzenden Vertragsauslegung bei unwirksamen Preisänderungsklauseln in Gaslieferverträgen bestätigt. Ausgangspunkt für die neuerliche Befassung waren Einwände gegen die höchstrichterliche Spruchpraxis, wonach der Kunde Preiserhöhungen nicht anfechten kann, wenn er sie nicht innerhalb von drei Jahren nach Zugang der Jahresrechnung, in der die Preiserhöhung erstmals berücksichtigt worden ist, beanstandet hat. Dies hatte der BGH über den Weg der ergänzenden Vertragsauslegung begründet. Hierzu habe ich auf der frei zugänglichen AGB-Klauselwerke Homepage des C.H. Beck Verlags  eine ausführliche Urteilsanmerkung verfasst. Die Homepage veröffentlicht aktuelle Meldungen, die im Zusammenhang mit dem Handbuch „Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke“ (hsrg. von Graf von Westphalen) stehen. Mein Kollege Thomas Höch und ich kommentieren darin das Recht der Gaslieferverträge.

Die wesentlichen Punkte der Leitsatzentscheidung:

  • Der VIII. Zivilsenat begegnet der Kritik, seine Lösung verletze Unionsrecht. Das Verbot geltungserhaltender Reduktion aus Art. 6 Abs. 1 Klauselrichtlinie (93/13/EWG) sei nicht tangiert. Die ergänzende Vertragsauslegung sei hiervon dogmatisch strikt zu unterscheiden. Zudem entspreche die ergänzende Vertragsauslegung auch dem Ziel der Klauselrichtlinie materielle Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien herzustellen.
  • Auf der Rechtsfolgenseite schließt der BGH eine Entreicherung des EVU nach § 818 Abs. 3 BGB aus. Wo sich die Preisänderungsklausel als unwirksam erweise, verbleibe das Kalkulationsrisiko und damit zugleich das Entreicherungsrisiko – entsprechend dem gesetzlichen Leitbild – beim Versorger.
  • Schließlich bestätigt der BGH seine Entscheidung vom 23.05.2012 (VIII ZR 210/11), wonach die Verjährungsfrist für Rückforderungsansprüche (§ 195 BGB) erst mit Erteilung der Jahresabrechnung und nicht bereits mit den unterjährigen Abschlagszahlungen beginnt.

EuGH erklärt Preisanpassungsklauseln für europarechtswidrig

21. März 2013 um 17:49 von

Mit Urteil vom heutigen Tage (Rechtssache C‑92/11) hat der Europäische Gerichtshof Preisanpassungsklauseln in Gaslieferverträgen, die den Wortlaut der AVBGasV  übernehmen, für europarechtswidrig erklärt. Die Entscheidung ist für die Versorgungswirtschaft von großer Bedeutung. Sie wirkt sich sowohl auf die Grundversorgung als auch auf die Gestaltung von Sonderkundenverträgen im Strom- und Gassektor aus. Der BGH hatte in Erwartung der EuGH-Entscheidung eine Reihe von Leitverfahren ausgesetzt.

Ausgangsverfahren

In dem der EuGH-Vorlage zugrunde liegenden Verfahren streiten die RWE Vertrieb AG und die Verbraucherzentrale NRW (aus abgetretenem Recht von verschiedenen Sonderkunden) um Gaspreisänderungen im Zeitraum 2003-2005. Das Gasversorgungsunternehmen hatte in den AGB seiner Sonderkundenverträge das gesetzlich im Tarifkundenverhältnis geltende einseitige Preisänderungsrecht (§ 4 Abs. 1, 2 AVBGasV) übernommen.

Der BGH hatte dem EuGH diesbezüglich zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: Die erste Frage lautete, ob die Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen dann keine Anwendung auf Preisänderungsklauseln findet, wenn die für Tarifkunden im Rahmen der allgemeinen Anschluss- und Versorgungspflicht geltenden gesetzlichen Regelungen unverändert in die Vertragsverhältnisse mit den Sonderkunden übernommen worden sind. Die zweite Frage betraf die Vereinbarkeit einer die AVBGasV unverändert übernehmenden Preisänderungsklausel mit der Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (RL 93/13/EWG) sowie der Erdgasbinnenmarktrichtlinie (RL 2003/55/EG).

Die mündliche Verhandlung hatte am 28.6.2012 stattgefunden. Nachdem bereits die Schlussanträge der Generalanwältin in diese Richtung gewiesen hatten, war die nunmehr vorliegende Entscheidung des EuGH erwartet worden. (…)

TelDaFax-Insolvenz: Anfechtungen gehen weiter

13. März 2013 um 11:25 von

Auch im neuen Jahr erhalten Netzbetreiber unverändert Schreiben, mit denen der Insolvenzverwalter der TelDaFax-Gruppe, Dr. Biner Bähr, Zahlungen der insolventen TelDaFax-Gesellschaften im Zusammenhang mit der Belieferung von Endkunden mit Strom und Gas anficht.

Da eine Anfechtung kongruenter oder inkongruenter Deckung (§§ 130, 131 InsO) nur bis zu 3 Monate vor Stellung des Insolvenzantrages zurückreicht, wird die Anfechtung vielfach auf Tatbestände gestützt, die es ermöglichen, auch länger zurückliegende Zahlungen herauszuverlangen.

In einer Konstellation argumentiert der Insolvenzverwalter, die Zahlung einer TelDaFax-Gesellschaft für eine Schwestergesellschaft sei rechtsgrundlos und damit unentgeltlich erfolgt. Die sog. Schenkungsanfechtung (§ 134 InsO) ermöglicht es im Erfolgsfalle, Sach- oder Geldleistungen des Schuldners wieder zur Masse zu ziehen, die bis zu 4 Jahre vor dem Eröffnungsantrag erfolgt sind. Bei dieser Art der Anfechtung kommt es maßgeblich darauf an, ob erstens tatsächlich eine unentgeltliche Leistung vorliegt und zweitens der Anfechtungsgegner (noch) bereichert ist. (…)